Sonntag in meinem Herzen

Wohl jede Religion ist Erzählgemeinschaft, ihre Gemeinschaft trägt gemeinsame Vorstellungen vom Heiligen in sich. Und ohne Erzählen verstummte sie.

Wenn das Heilige gegenwärtig ist, ist alles anders: Sonntag im Herzen. Man muss es nicht erzählen, es ist da. Jesus damals und seine Nächsten, Jünger, Freunde, Verwandte. Ihre Geschichten prägen bis heute unsere Bilder von Leben, Angst und Hoffnung. Zum Beispiel die Erzählung vom «Barmherzigen Samariter».

Ein Mensch ging von Jerusalem nach Jericho und wurde überfallen; Räuber zogen ihn aus, schlugen ihn, machten sich davon und liessen ihn halb tot liegen. Ein Priester kam vorbei; als er den Menschen am Boden sah, ging er vorüber. Auch ein Tempeldiener. Ein Mensch aus Samaria war ebenfalls bald unterwegs, sah jenen am Boden, wandte sich ihm zu, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie, hob ihn auf seinen Esel, brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag gab er dem Wirt Geld und sagte: «Pflege ihn; wenn du mehr ausgibst, werde ich’s dir bezahlen, wenn ich wiederkomme».

Jesu Frage: «Wer von diesen dreien ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war?» – «Der die Barmherzigkeit tat.». Da sprach Jesus zu ihm: «So geh und mach es gleich»! Lukas 10,29-37

Archäologen haben eine «Polizeistation» am Weg von Jerusalem nach Jericho gefunden, lese ich. Das hiesse, die Römer hätten das Problem mit den Räubern erkannt, und Jesus nahm darauf Bezug.

Die Geschichte sagt: das Heilige ist in einer Handreichung gegenwärtig. Mehr noch: Jesu Zuhörer/innen wussten, dass der Samaritaner das Spiegelbild des Eigenen war: einer mit denselben Wurzeln, aber mit einer anderen Tradition. Fremd und eigen zugleich. Und wer ist der Nächste für denjenigen, der am Boden liegt? Dieser Fremde. Das Gleichnis erzählt vom Spiegelbild des Eigenen in den Augen des Nächsten, der Nächsten, auch wenn mir die Welt fremd vorkommt. Liebe Gott und den Nächsten wie dich selbst.

Mit dem «Barherzigen Samariter» können wir unterschiedlichen Akteuren folgen: Räuber und Römer – die einen lösen die Geschichte aus, die anderen könnten sie verhindern. Dann kommen Samaritaner, Kaufmann, ein Leiter der Herberge und viele mehr ins Gesichtsfeld. Stellen wir uns den Menschen am Boden vor: hilflos suchend, geprügelt und verlassen. Zwei Augen schauen vorbei und nochmals zwei und alle schauen weg. Keine Zeit für den Nächsten. Dann kommen fremde Augen dazu: «face-to-face». Wie schön musste die Rettung sein. Liegt die Schönheit, liegt das Licht im Auge des Betrachters, wie man sagt, der Hilfe braucht oder dessen, der hilft? – Es gibt nicht nur diese eine Geschichte in unserer Erzählgemeinschaft, aber sie lässt sich vielfach umgestalten, gewinnt damit immer neue Facetten – der Samariter aber bleibt Mittelpunkt. Statt der Namen könnte man heute z.B. von «Funktionären» und «Assistenten» sprechen. Man kann die Bezeichnungen auswechseln: man darf aber nicht aufhören, sie zu erzählen. Das genügt nicht: erzählen und tun.

Benedikt Schölly, Pfarrer

[Bildnachweis: „Der barmherzige Samariter“, Julius Schnorr von Carolsfeld, 1833, Städel Museum, Frankfurt am Main]

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.